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Telematik-Unterstützung von Ärztenetzen in der klinischen Forschung

von Prof. Dr. habil. Harald Englisch und Dr. Dr. med. Hans-Detlev Stahl

1. Einleitung

Im klassischen Sinn wird unter einem Praxisnetz ein Verbund von niedergelassenen Ärzten und Kliniken zur Optimierung der Versorgung der Patienten verstanden (s. z.B. [1]). Vor ca. einem Jahr hat sich das Zentrum für Therapiestudien an der Universität Leipzig (ZET [2]) gegründet, das auf einer langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Fachärzten und einer Leipziger Universitätsklinik (dem Institut für Klinische Immunologie und Transfusionsmedizin [3]) basiert. Das ZET erhofft sich vom Telematikeinsatz eine Effektivierung und Qualitätsverbesserung bei der Durchführung klinischer Studien.

2. Das Telematikprojekt

2.1 Ziel

Langfristig stellt sich das ZET das Ziel, auf freiwilliger Basis alle niedergelassenen Ärzte des ZET mit dem Studienzentrum und untereinander so zu vernetzen, daß hochsensible Daten unter Einhaltung strengster Sicherheitsbestimmungen ausgetauscht werden können.
Kurzfristig wird in einem Pilotprojekt angestrebt, die 10-15 aktivsten Hausärzte des ZET so mit dem klinischen Studienzentrum zu verbinden, daß vor allem die für die Pharmaforschung sehr wichtige Quelldatenverifizierung [4] und Probandenrekrutierung davon profitiert. Damit unterscheidet sich das hier vorgestellte Projekt von anspruchsvolleren Zielsetzungen im Rahmen des Remote Data Entry (RDE). Das Pilotprojekt soll der öffentlichen Hand demonstrieren, daß eine Förderung der umfassenderen Vernetzung auch im öffentlichen Interesse liegt.

2.2 Ausgangslage

Es darf nicht vergessen werden, daß auch solche Ärzte im ZET mitarbeiten können, die noch keine Praxis-EDV nutzen. Da sich jedoch die Ärzte in Ostdeutschland in der Regel erst nach 1990 niederließen, dürfte Praxis-EDV verbreiteter sein als in den alten Bundesländern. Ein gravierenderes Problem wird uns jedoch durch die verschiedenen Praxissoftwaresysteme beschert. Wir gehen davon aus, daß bei 15 Fachärzten mit etwa 5 verschiedenen Softwaresystemen zu rechnen ist. Die verschiedenen Systeme haben alle eine sogenannte KVDT-Schnittstelle, um Daten an die Kassenärztliche Vereinigung (KV) weiterzugeben. Diese Schnittstelle ist für die Ärzte überlebenswichtig, denn Honorare werden an die Ärzte erst nach Übermittlung der Daten an die KV überwiesen.
Viele Praxissoftwaresysteme besitzen auch eine sogenannte BDT-Schnittstelle zum Austausch von Befunddaten. Inwieweit diese aber den Anforderungen der klinischen Forschung genügt, werden wir im Laufe des Pilotprojekts erfahren. Der Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Betreuern der Praxissoftwaresysteme wird eine wichtige Voraussetzung darstellen.
Da die Datensicherheit für die niedergelassen Ärzte eine hochsensible Frage darstellt, wird dem durch die Einbeziehung von anerkannten Sicherheitslösungen aus dem medizinischen Bereich wie www.dgn.de oder www.deutschlandmed.de Rechnung getragen.
Unser Eindruck ist bisher, daß das Internet von den Niedergelassenen noch nicht häufig genutzt wird. Und wenn, dann in der Regel auf dem heimischen Computer, damit beim Surfen ja kein Virus eingefangen wird, der für den Praxiscomputer verheerende Folgen haben könnte.
Die Aufgeschlossenheit vieler Ärzte für ein Telematik-Projekt ergibt sich aus der Zeitersparnis und Vereinfachung beim Befundaustausch sowie dem Zugang zu fachspezifischen Informationsquellen im Internet wie Online-Versionen von Zeitschriften in kostenpflichtigen Angeboten wie www.multimedica.de bzw. kostenfreien Angeboten wie www.orthonet.de der Bayer Vital GmbH.

2.3 Informationsflüsse

Bei dem ZET-Modell der Durchführung klinischer Studien laufen die Informationsflüsse sternförmig, wobei das ZET im Mittelpunkt steht. Auf folgende Flüsse soll im Folgenden eingegangen werden:

A. Vom Facharzt sowie Hausarzt

Der Facharzt liefert genauso wie der Hausarzt die sogenannten Quelldaten
  • Vorerkrankungen
  • Adverse Events
  • Behandlungen {Medikamente (Präparat, Dosierung, Einnahme von bis wann), Eingriffe}
  • Diagnostik
  • Resultate.
Diese werden in der Regel per Fax, Post oder Telefon übermittelt oder der Patient bringt sie in die Sprechstunde der Studienambulanz mit. Oft erreichen die Informationen die Studienambulanz erst mit großer Verzögerung: Bei den z.T. erst nach 3 Monaten stattfindenden Visiten in der Studienambulanz gewöhnen sich die Probanden recht schnell daran, daß der Prüfarzt auch die gewöhnlichsten Beschwerden wie Husten, die mit dem Testmedikament wohl nichts zu tun haben, exakt und detailliert wissen möchte. Rückfragen beim Fach- bzw. Hausarzt schließen sich regelmäßig an. Aufgrund des Aufwandes bei der Kommunikation sowie des Zeitverzuges soll hier die Telematikverbindung zum Facharzt eine Verbesserung bringen.
Wünschenswert wäre es, daß der PC den Hausarzt, der eine Information zu einem an einer Studie beteiligten Patienten in seinen Praxis-Rechner eingibt, immer gleich fragt, ob diese Information an das Studienzentrum weitergeleitet werden kann. Inwieweit eine solche Funktion ohne größeren Aufwand bei den verschiedenen Praxissoftwaresystemen implementiert werden kann, wird die nächste Zeit zeigen. Mit Sicherheit sind Eingriffe in die Praxissoftware tabu, die die Gewährleistungspflichten des Praxissoftwareherstellers berühren.
Bevor der Hausarzt Quelldaten liefert, schlägt er erst einmal Patienten für die Studie vor. Ein weiterer Schritt für den EDV-Einsatz wäre die automatisierte Vorauswahl der Patienten für Studien. Vom niedergelassenen Arzt kann nicht erwartet werden kann, daß er bei all seinen Patienten kontrolliert, ob sie den strengen Ausschlußkriterien der Studien genügen. Da es nicht ungewöhnlich ist, daß von den für eine Studie untersuchten Patienten nur 10% in die Studie einbezogen werden, ist für die forschenden Arzneimittelhersteller eine Verbesserung der Vorauswahl finanziell auch von Interesse. Die prospektive Anlage einer entsprechend den zu erwartenden Anforderungen von klinischen Studien strukturierten Patienten-Datenbank des Arztes erscheint dabei erfolgversprechender als die retrospektive Durchforstung schlecht strukturierter Datensätze. Beim retrospektivem Durchkämmen des Patientengutes ist man zudem nicht nur mit verschiedenen Praxissoftsystemen konfrontiert, sondern jeder Arzt richtet sich sein System noch individuell ein. Der eine hat in einem Feld das Geschlecht kodiert, der nächste nicht.

B. Zum Facharzt sowie Hausarzt

Befunde (z.B. EKG, Blutbild, Thorax), die im Rahmen einer Studie erhoben werden, sollen automatisch an die Hausärzte weitergegeben werden. Diese Funktion soll über die Möglichkeit der Fax-Umleitung sogar für alle Fachärzte und Hausärzte realisiert werden. Vor allem zwecks Vermeidung unnötiger Strahlenbelastung ist dies auch im Interesse der Patienten. Hinzu kommt eine marginale finanzielle Entlastung der Krankenkassen in dem Falle, daß der Patient sowieso bald eine Aufnahme gebraucht hätte, da diese Untersuchungen ausschließlich vom Sponsor bezahlt werden. Als erstes werden die Ärzte natürlich darüber informiert, ob ihr Patient in die Studie aufgenommen wurde. Weiterhin werden sie über den Fortgang der Studie auf dem Laufenden gehalten.
In Zukunft kann auch daran gedacht werden, Hinweise auf interessante Quellen im Internet zu übermitteln. Bei dem Projekt müssen wir ja auch im Auge haben, daß die sich beteiligenden Ärzte nicht nur einen zusätzlichen Aufwand haben, sondern ihnen auch ein Nutzen vermittelt wird.

C. Zum Sponsor

Zusätzlich zu den unter A. erwähnten Quelldaten werden in der Studienambulanz viele weitere Daten erhoben, die bisher handschriftlich in Formulare eingetragen werden bzw. als analoges EKG vorliegen. Die Studienambulanz erscheint damit der geeignete Ort zu sein, wo mit automatisierter Spracheingabe experimentiert werden kann. Die meisten Daten werden per Fax übertragen, hinzu kommt noch der Postweg und das Telefon. Es ist zu erwarten, daß hier mit geringem technischen Aufwand schnell Effekte erzielt werden können.

D. Vom Sponsor

Bei der Faxübermittlung von handschriftlichen Daten ist es nicht verwunderlich, daß es gelegentlich zu Rückfragen in den "Discrepancies Reports" kommt. Weiterhin ist der Sponsor daran interessiert, allgemeine Informationen zur Studie an die Studienambulanz zu geben, die alle beteiligten Haus- und Fachärzte erreichen sollen. Hier kann man auch an Vorteile bei der Markteinführung neuer Medikamente im Großraum Leipzig denken.

E. Zur Zentralbefundung

Um weltweit einheitliche Standards bei der Befundung zu erreichen, wird in Abhängigkeit vom Studienprotokoll Material (z.B. Blutprobe, Röntgenaufnahme) z.T. zur Befundung an zentrale Stellen in Europa versandt. Dabei werden die analogen Röntgenbilder vor der Befundung z.T. zentral digitalisiert.

F. Von der Zentralbefundung

Die Befunde werden ans ZET gesandt, wobei zur Zeit das ZET weder eine Kopie noch die digitale Version des Röntgenbildes erhält. Die Befunde geben Auskunft darüber, ob der potentielle Proband in die Studie aufgenommen werden kann. Verzögerungen bei der Befundübermittlung haben somit zur Folge, daß Probanden die Studie später beginnen können und somit auch die Zulassung des Medikaments später erfolgt - was für den Pharmakonzern Konsequenzen im Millionenbereich hat. Auch hier scheint somit das Verhältnis von Aufwand bei der Einführung telematischer Verfahren zum Nutzen besonders günstig zu sein.

G. Zur Öffentlichkeit

In den USA ist es schon üblich, daß sich Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen gezielt die Klinik auswählen, die in klinische Studien eingebunden sind. Deshalb sieht das Kommunikationskonzept des ZET vor, nicht nur die Fachöffentlichkeit anzusprechen, sondern auch den suchenden Patienten (bzw. Angehörigen). Damit sind als Informationsmedium nicht nur die Fachpresse und Tagungen im Visier, sondern unter Beachtung des Heilmittelwerbegesetzes auch das Internet und die breiten Medien.

2.4 Nutzen des Telematikeinsatzes

Es sollen nicht nur der Nutzen des Pilotprojektes besprochen werden, sondern die des breiten Telematikeinsatzes bei klinischen Studien.
Auf die Kostenersparnis, wenn Post und Fax durch Internet abgelöst werden, soll nicht weiter eingegangenwerden.
Die klinischen Studien sind mit einem starken Kontrollmechanismus verbunden: Vom Sponsor angestellte Monitore überwachen die Prüfärzte, außerdem werden beide von Auditoren kontrolliert. Wenn in Zukunft viele Quelldaten nur noch in elektronischer Form vorliegen und Mechanismen diese vor Veränderungen sichern, so verringert sich der Aufwand für den Monitor und den Auditor. Weiterhin sind Vorteile bei der Datenarchivierung zu erwarten.
Der Zeitgewinn bei der Zulassung von neuen Arzneimitteln wurde unter 2.3 schon angesprochen. Dieser kann sich durch eine verbesserte Rekrutierung von Patienten noch erhöhen - siehe die Ausführung zur niedrigen Quote von zu Studien zugelassenen Patienten (Vermeidung unnötiger Fahrten zur Studienambulanz und unnötiger Untersuchungen - die Kosten trägt der Sponsor) und zur automatischen Durchsicht des Patientengutes in Punkt A.
Mit dem Pilotprojekt, bei dem Pragmatismus (abgesehen von den Fragen der Datensicherheit) groß geschrieben werden soll, können Erfahrungen gesammelt werden, die für die Datenferneingabe von Belang sind. Es scheint uns, daß mehrere Pharmakonzerne sehr ehrgeizige Lösungen zur Ferneingabe angedacht haben, die aber unter anderem wegen fehlender Standards nicht so schnell umgesetzt werden können. Es ist vorstellbar, daß ein intensiver Dialog sich mit den Spezialisten der Standardisierung als auch der Datenferneingabe, z.B. im Verband der forschenden Arzneimittelhersteller, zustande kommt.
Bisher wurde davon gesprochen, daß sich die Ärzte von der Nutzung des Internets als Informationsquelle etwas erhoffen. Aber auch umgekehrt profitiert die Pharmaindustrie davon, wenn ihre Internetplattformen häufiger besucht werden und sie ihre Angebote aufgrund der Rückkopplung aus der Ärzteschaft optimieren kann.

3. Anforderungen und Realisierung

Der Schutz aller Daten zu jedem Zeitpunkt ist eine zentrale Forderung, die z.B. durch Verschlüsselungstechniken für die auszutauschenden und speichernden Informationen im Extranet gewährleistet werden muß. Weiterhin sind die Sicherheitsprobleme bei der Übernahme von Daten aus der Praxissoftware zu klären. Es wird eine solche Lösung angestrebt, die durch ein anerkanntes Fachgremium zertifiziert wird.
Die hohe Sicherheit soll aber nicht zu Lasten der einfachen Bedienbarkeit erreicht werden.
In der Pilotphase ist noch nicht an den Austausch von Bilddaten gedacht, deshalb werden ISDN-Wählleitungen dem Datenaufkommen gerecht werden. Damit bleiben auch die Kosten überschaubar und ein Vorteil für Telematikprojekte in Ostdeutschland, die gute ISDN-Verfügbarkeit, wird ausgenutzt. Die Lösung soll aber so flexibel sein, daß sie einerseits zukunftssicher ist und andererseits unkompliziert weitere Ärzte eingebunden werden können.
Diesen Anforderungen scheint vor allem Lotus Notes gerecht zu werden. Die Nutzung eines integrierten Softwarepaketes ist nicht nur unter Kosten-, sondern auch unter Sicherheitsaspekten von Interesse. Die hohen Sicherheitsstandards führten dazu, daß auch im militärischen Bereich Lotus eingesetzt wird. Die elektronische Unterschrift ist in Lotus integriert, wobei in einer geschlossenen Benutzergruppe die geringe Verbreitung von Trustcentern keine Rolle spielt. Der Forderung, daß in klinischen Studien alle Veränderungen (z.B. von Diagnosen) ordentlich dokumentiert werden müssen, läßt sich in Lotus einfach nachkommen. In Lotus können Zugriffsrechte auf einzelne Felder individuell vergeben werden: Der Prüfarzt hat z.B. den Namen des Patienten zu kennen, der Sponsor nicht.
Da Lotus auch eine Volltextrecherche gestattet, kann die Datenauswertung sehr flexibel gehandhabt werden. Langfristig scheinen Überlegungen in Richtung Data Warehouse nicht unangebracht zu sein.

4. Ausblick

Bei den Ärzten besteht auch Interesse am Austausch von Bilddaten, ohne daß die hard- und softwareseitigen Voraussetzungen geprüft wurden. Durch die Schaffung des DICOM-Standards in der Teleradiologie scheint es aber nicht unrealistisch zu sein, daß Bilddaten in einem nächsten Schritt einbezogen werden können.
Weiterhin muß nicht nur an klinischen Studien gedacht werden, sondern ein größeres Telematiknetz eignet sich auch für Krankheitskostenstudien und sog. Health Technology Assessments.
Da auf europäischer Ebene die Nutzung der Telematik in der Medizin als unbefriedigend eingeschätzt wird, wurde diese als ein Schwerpunkt im Rahmen der Initiative zur "Benutzerfreundlichen Informationsgesellschaft" aufgenommen. Es gab zwar schon eine Vielzahl von Pilotprojekten auf europäischer Ebene, keines fand jedoch eine ausreichende Verbreitung. Ob die europaweit durchgeführten klinischen Studien den entscheidenden Anstoß bringen?
Und schließlich soll von Europa wieder ein Blick zurück auf die Bundesrepublik geworfen werden. In der stark umstrittenen Gesundheitsreform 2000 ist auch eine verbesserte Verzahnung des ambulanten und stationären Versorgung vorgesehen, wobei Praxisnetze explizit erwähnt werden - die klinische Forschung wird dabei nicht genannt. In Leipzig ist aber aus der klinischen Forschung bei den Rheumatologen ein solch klassisches Praxisnetz entstanden, eine analoge Entwicklung bei den Orthopäden deutet sich an.
Wir glauben, daß wir im ZET bald ein spannendes Telematikprojekt beginnen, und sind an einem fruchtbringenden Austausch mit anderen Initiativen sehr interessiert.

Danksagung

Wir möchten Herrn R. Wolf (Thales Leipzig), Dr. Neis (Hoffmann-La Roche) und Dr. Wingen (Bayer Vital GmbH) für viele nützliche Diskussionen bedanken.

Literatur

[1]www.vernetzte-praxen.de, www.praxisnetze.de
[2]www.clinpharm.de
[3]www.uni-leipzig.de/~ikit
[4]M. Stapff: "Arzneimittelstudien", W. Zuckschwerdt Verlag, München e.a. 1998

Aktualisierte Fassung eines Vortrags, erschienen in "Telemed ´99", Berlin 5.-6.11.1999.